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Inspiration Nr. 3 - 2022

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Wegweiser

Wegweiser Trotzigplanggstock ‹1› Je näher man dem Gipfel kommt, desto eindrücklichere Tiefblicke bieten sich. Hier in einer der letzten Seillängen am Südgrat. ‹2› Ist der Einstieg gefunden, beginnt das pure Glück aus Gneis. sodass die Hände nach wenigen Klettermetern klamm sind. Lange aber dauert es nicht, bis wir am Grat in die Wärme der Morgensonne auftauchen, und was dann folgt, ist pures Glück aus Gneis: Wir greifen in Risse, piazzen Schuppen hoch, stehen auf Leisten und halten uns an sonnengewärmten Griffen fest – kurz: eine Kletterei, so schön, als hätte die Natur diesen Grat zum Klettern erschaffen. Das mochten sich auch jene zwei Kletterer gedacht haben, die im Sommer 1919 schliesslich als Erste über diesen Grat auf den Trotzigplanggstock kletterten. Wobei die Route mit ihren Stellen im oberen vierten Grad damals den Kennern vorbehalten war. Was auch erklärt, warum wir auf alpinhistorischen Spuren klettern: Einer der zwei Kletterer war Max Liniger, der zwei Jahre später am Mönch Alpingeschichte schreiben sollte. Er und Hans Lauper durchstiegen im Sommer 1921 erstmals die Nordwand des Mönch und eröffneten damit jene Route, die als Lauper-Route bekannt wurde und Alpinisten bis heute das Fürchten lehrt. Der «Trotzig» kann auch widerspenstig Zugegeben, unser Trotzigplanggstock ist kleiner und zahmer als der Mönch. Dennoch bietet er grosses Bergkino: Wohin wir blicken, ragen Gipfel und Felstürme in den Himmel. Und stellen wir ab und zu die Füsse auf Tritte auf der Ostseite des Grats, blicken wir in die Tiefe, wo – weit, weit unten – die Spalten des Wichelplanggfirns grafische Muster bilden. «Wahrhaft wilde, kleine Berge», denke ich mir, während wir immer höher klettern, derweil ein frischer Bergwind um uns weht. Nur einmal stockt der Kletterfluss: Der Steilaufschwung der Schlüsselstelle ist plattiger als erwartet, und so zeigt uns der «Trotzig» doch noch seine widerspenstige Seite. Doch nur kurz, bevor wir im Fluss des Kraxelns dem Gipfel weiter entgegenklettern. Fast zu schnell erreichen wir den höchsten Punkt des Zackens. Umgeben von einer «fantastisch gezackten Kette, die sich von den Fünffingerstöcken zu den Spannörtern zieht», wie Henry Ludescher schrieb. Und so wie er damals vom Wichelplanggstock nach Süden zum Trotzigplanggstock blickte, betrachten wir nun die Gneistürme des «Wichels», die sich direkt vor uns gegen Norden erheben. Wie gern würden wir weiterklettern! Doch es geht uns wie Henry und Kollege: Uns läuft die Zeit davon. Dabei schnappt uns natürlich niemand eine Erstbesteigung weg – den beiden Klet- ‹1› «Eine Kletterei, so schön, als hätte die Natur diesen Grat zum Klettern erschaffen.» ‹2› 38 39

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