RUBRIK UNTERRUBRIK WEGWEISER LAUTERAARHORN Das Lauteraarhorn gilt als abgelegenster Viertausender der Schweizer Alpen. Allein der Zustieg ins Aarbiwak dauert einen Tag. Wer gar stracks vom Gipfel bis zur Grimselpassstrasse zurückkehrt, erlebt vielleicht die längste Tour des Lebens. Mit Eindrücken, so tief, als hätte sie während Tagen durch die Wildnis geführt. TEXT & FOTOS CAROLINE FINK AUF DIE LANGE TOUR Wir stehen unterhalb des Grimselpasses an der Strasse. Es regnet. Der Himmel ist so grau wie die Granitgipfel und die Staumauer des Grimselsees. Keine guten Aussichten, denn vor uns liegt der Zustieg ins Aarbiwak. Was konkret heisst: sieben bis acht Stunden im Regen zu marschieren und – nach kurzer Nacht – in die noch klammen Kleider zu schlüpfen, um auf das 4042 Meter hohe Lauteraarhorn zu steigen. Wir planen unser dreitägiges Zeitfenster kurzerhand um: Im Regen werden wir bis zur Lauteraarhütte wandern, die auf halbem Weg liegt. Tags darauf anstatt auf den Gipfel nur bis ins Biwak aufsteigen und am dritten Tag vom Gipfel zurück bis zur Passstrasse stiefeln. Zugegeben, wir rechnen gar nicht erst aus, wie lange Tourentag Nummer drei dauern wird. Klar ist nur: irgendwie lange. Denn das Lauteraarhorn gilt als abgelegenster Viertausender der Alpen, umgeben von Gletscherströmen und Gipfeln, die an einen Karakorum im Kleinformat erinnern. Allein der Weg zur Lauteraarhütte bietet Stoff für Bergträume. Und dies selbst bei Nieselregen. Reissen die Wolken auf, schimmert der Grimselsee smaragden unter uns. Dann wieder leuchten pinkfarbene Türkenbundlilien vor weitem Schwemmland aus Kies und Sand, während sich rund um uns Granitgipfel erheben mit Plattenfluchten, so glatt, als wäre der Fels noch flüssig. Eldorado nannten die Kletterer eine dieser Wände. Das verheissungsvolle Land quasi, durch das seit den 1980er-Jahren legendäre Kletterrouten wie Motörhead und Septumania führen, eröffnet von den ebenso legendären Gebrüdern Rémy. Mit dampfenden Töpfen in einer offenen Küche, die so klein ist, dass wir mit den Hüttenwarten und einer Handvoll Gäste gemeinsam in der Holzstube essen. Hie und da blicke ich aus dem Fenster. Auf die mächtigen Flanken aus Firn und Fels. Und die Wolkenbauschen, zwischen denen mit einem Mal – als schwebte er über der Welt – ein Felsgipfel auftaucht: das Lauteraarhorn. Es ist diese Welt, in die wir am nächsten Tag tiefer hineinziehen. So wild, dass ich mich darin nur noch als Gast fühle. Mal knirscht Gletschereis unter den Schritten, dann klirrt Geröll wie Scherben aus Porzellan. Immer weiter steigen wir den flachen Gletscherzungen entlang bergwärts. Durch Mulden voller Geschiebe, über Böschungen aus Eis, Wasserläufen entlang, in denen Schmelzwasser rauscht, das ganz unvermittelt in donnernden Gletschermühlen verschwindet. FRÜHER HÔTEL, HEUTE BIWAK Bereits vor knapp 200 Jahren begannen Forscher, dieses Gebiet zu erkunden. Geologen, Glaziologen, Physiker und deren Bergführer, die hier – auf einer Moräne zwischen zwei Felsblöcken – eine Hütte bauten, die als Hôtel des Neuchâtelois in die Alpingeschichte einging. Genauso wie manche alpinen Taten der Forscher: Etwa jene von Professor Arnold Escher von der Linth, der mit zwei Gefährten und fünf Bergführern am 8. August 1842 das Schreckhorn erstbesteigen wollte und anstelle dessen auf dem Lauteraarhorn landete. Womit den Männern doch immerhin die Erstbesteigung des sechsten der insgesamt 48 Schweizer Viertausender gelungen war. Am Morgen eines sehr langen Hochtourentages: Winzig wirken die beiden Bergsteiger unter dem Eindruck 36 des Finsteraarhorns. INSPIRATION 03 / 2021 Die meisten Besucher kommen heute jedoch der Lauteraarhütte wegen. Eine Hütte, die wie ein Falkennest in den Granitwänden hängt und an die Zeit der Pioniere erinnert. Als wir den Strahlegg-Gletscher erreichen, blicken wir in dieselbe Szenerie wie die einstigen Pioniere: Finsteraarhorn und Lauteraarhorn als mächtige Felspyramiden, 37
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