Aufrufe
vor 2 Jahren

Inspiration Nr. 3 - 2021

  • Text
  • Edelrid
  • Inspiration
  • Rotstock
  • Bergsport
  • Gewicht
  • Seil
  • Wegweiser
  • Gipfel
  • Meter
  • Kletterer

RUBRIK UNTERRUBRIK

RUBRIK UNTERRUBRIK WEGWEISER TESSIN Zwischen dem Centovalli und dem Lago Maggiore könnten die Kontraste zwischen Trubel und Ruhe nicht grösser sein. Die Wanderung über die Via del Mercato, das abgeschiedene Bergdorf Rasa und den Pizzo Leone entführt in eine Oase stiller Natur. IM WANDEL DER ZEIT Der Wechsel vom Alpinen ins Mediterrane könnte nicht grösser sein auf der Route über den Pizzo Leone hinunter 14 nach Ascona. INSPIRATION 03 / 2021 In den dunklen Tagen des Jahres 1940 durchwanderte ich ein einsames Tessiner Bergtal. Hoch über der Strasse lockte ein kleines Dorf, das wie ein Nest an der Felswand zu kleben schien. Unter der Tür eines winzigen Hauses sass eine alte Frau in den kostbaren Strahlen einer seltenen Sonnenstunde. Ihre Hingabe an die segnende Wärme, in Verbindung mit vollkommener Stille, schien mir so sehr ein Gebet, dass ich mich scheu zurückzog.» Die berührenden Worte und Bilder des Fotografen Rico Jenny aus Tegna begleiten mich auf dem Weg durch das Centovalli. Ein Tal mit so vielen Furchen, dass man ihm den Namen «100 Täler» gab. Furchen, die auch die Porträts von Rico Jenny zeichnen. Manche Dörfer auf der Schattenseite bekommen im Winter kaum einen Strahl Sonne ab. Auf der Sonnenseite hingegen gedeihen Reben bis auf 800 Metern Höhe. Dennoch war ein Auskommen für die ganze Familie in dem steilen, unwegsamen Gelände nicht leicht zu erreichen: Viele wanderten aus oder mussten sich als «Spazzacamino», als Kaminfeger, schon im Bubenalter verdingen. Im «Museo Centovalli e Pedemonte» in Intragna können Besucher in einen dieser engen Kamine hineinschauen, in die sich einst Achtjährige hineinzwängen mussten. Man kann die Angst, darin zu ersticken, nachfühlen. Auch die Bilder des Fotografen Jenny hängen dort. «Das Museum ist kein Ort, um alte Dinge zu konservieren», sagt der junge Kurator Mattia Dellagana. «Sondern ein Ort des Austausches und der Inspiration. Nicht vergangenheits-, sondern zukunftsorientiert.» Das Museum liegt direkt an der Via del Mercato, dem Marktweg und der lange Zeit einzigen Verbindung zwischen Domodossola und Locarno. Sie TEXT & FOTOS IRIS KÜRSCHNER wurde vor allem von Händlern, Holzfällern, Hirten und Emigranten genutzt. Eine geschichtsträchtige Route, die heute als Wanderweg mit der Nr. 631 ausgeschildert ist und einen intensiven Eindruck vom Centovalli vermittelt. Genau der richtige Start für meine Wanderung über den Kamm, der das Centovalli vom Lago Maggiore trennt, nach Ascona. Man könnte die Wanderung in einem Tag absolvieren, doch sind die Erlebnisse nicht viel nachhaltiger, wenn man sich Zeit nimmt? Schon eine erste Übernachtung in Intragna bringt einem den Esprit des archaischen Ortes nahe. Die zweite Nacht plane ich in Rasa, dem Dorf ohne Strasse, die dritte in Arcegno oder am Monte Verità – dem Berg der Wahrheit. Die Tour könnte nicht besser in unsere Zeit passen. IM WANDEL DER ZEIT Nicht nur Mattia Dellagana ahnt, dass wir uns im grössten Wandel der Menschheitsgeschichte befinden. «Meine Grossmutter zählt zu der Generation, die den gesamten Fortschritt und Wandel des 20. Jahrhunderts in einem einzigen Leben erfuhr. Sie wuchs noch ohne Strom und Heizung als Selbstversorgerin auf. So viel Wandel innerhalb nur einer Generation ist beispiellos», reflektiert der Kurator. «Früher ging es um das Wesentliche, um Qualität, heute um Quantität, um Überfluss.» Aber macht es uns glücklicher, fragen seine Augen. Nein, eher unzufriedener. Wie nutzen wir heute unsere Zeit? Oftmals steht der Konsum im Vordergrund, die Sucht nach dem Haben unterbindet das Sein. Gedanken, die mich auf der Via del Mercato begleiten und mich schliesslich auf das fokussieren lassen, was im Hier und Jetzt passiert. Die Vögel zwitschern, es riecht nach üppiger Natur. Palmen lugen zwischen Laubbäumen hindurch, Blüten verströmen ver- 15

Deutsch