Aufrufe
vor 3 Jahren

Inspiration Nr. 02 - 2021

WEGWEISER

WEGWEISER MÜRREN-KANDERSTEG Kaum ein Weitwanderweg in den Berner Alpen stillt die Sehnsucht nach grosser Natur so eindrucksvoll und abwechslungsreich wie der Bärentrek. Besonders der Abschnitt zwischen Mürren und Kandersteg ist voller Kontraste – und Überraschungen. ZERBRECHLICHE WELTEN Über der Alp Oberbärgli thront die Wildi Frau an den Gletschern des 24 Blüemlisalpmassivs. INSPIRATION 02 / 2021 Dohlenschreie hallen von den Wänden wider. Wände, deren Ende man nicht sehen kann, weil sie im Nebel stecken. Aber man erahnt, dass es weit sein muss, ehe sie aufhören. Manchmal lockert sich der Nebel und man sieht tiefer hinunter oder höher hinauf, aber nie bis zum Ende. Ab und zu dringt auch die Sonne durch, huscht als gleissende Scheibe durch die Wetterküche, um dann gleich wieder zu verschwinden. Gespenstisch, vor allem, wenn sich die Wanderpartnerin nur wenige Meter vor einem auflöst. Mystiker hätten ihre wahre Freude an den ständigen Veränderungen von Stimmung und Atmosphäre. Es ist Vormittag, es könnte aber genauso gut Nachmittag sein. Mit diesem Wetter ist man zeitlos unterwegs. Aber das wollten wir ja, Tine und ich auf dem Weg von Mürren nach Kandersteg. Wir setzen uns nicht unter Druck, nur um später vielleicht stolz sagen zu können, dass wir in so und so viel Stunden von A nach B gekommen sind und unzählige Gipfel mitgenommen haben. Stattdessen trödeln wir und nehmen die Natur in vollen Zügen auf. Frei sein von allem – wie gut das tut, vor allem in jetzigen Zeiten. Vier Tage Auszeit wollen wir uns gönnen, auch wenn man die Strecke in zwei Tagen zurücklegen könnte. Aber drei feine Hütten liegen am Weg – warum das nicht auskosten, zumal sie mit umwerfender Lage auftrumpfen? DURCH DIE HINTERE GASSE Die Strecke von Mürren nach Kandersteg folgt der Via Alpina und zugleich dem Bärentrek. Eine Route, die auch als Hintere Gasse bekannt ist – ein Acht-Tages-Trek von Ost nach West quer durch die gewaltige Bergwelt des TEXT & FOTOS IRIS KÜRSCHNER Berner Oberlandes, immer an der Grenze von grünen Alpen zu mächtigen Viertausendern, hautnah an Gletschern und monumentalem Urgestein entlang. Mit dem Abschnitt zwischen Mürren und Kandersteg haben wir uns einen besonders spektakulären herausgepickt. «Wahnsinn», bricht es aus Tine heraus, als sie auf einen Felsen steigt. Sie fühlt die Dramatik der Natur und kommt sich frei wie ein Vogel vor. Auf der eng gegenüberliegenden Talseite kleben die Gletscher – wir hören es immer wieder poltern. Gestartet sind wir gestern bei guten Wetterprognosen. Doch der Föhn drückt stärker als erwartet Wolkenpakete über die Gebirgskämme. Über die saftigen Matten der Spielbodenalp ging's zur Rotstockhütte. Ein traumhafter Höhenweg mit viel Panorama und abwechslungsreicher als die Route von Gimmelwald durch das Sefinental zur Hütte hinauf. Mächtig wachsen die Bütlasse und das Gspaltenhorn in den Himmel, während man mehr oder weniger entlang der Höhenlinie dem Etappenziel entgegenschlendert. Ganz entspannt und vergleichsweise einsam – denn der Weg ist nicht einmal für Mountainbiker freigegeben. Die Rotstockhütte wirkt wie aus Pionierszeiten: Steingemäuer, Holzstube, die Lager eng an eng. Doch der Skiclub Stechelberg hat in seine 1946 erbaute Privathütte durchaus investiert: So steht jetzt nebenan eine kleine VIP-Lodge. «Vogelhiisi» nennt Hüttenwart Simon sie schmunzelnd. Darin steht ein Doppelbett mit Tisch und Ofen, es duftet nach Lärchenholz. Wer diese exquisite Übernachtungsform bucht, darf sich morgens auf ein üppiges Frühstück mit Speck und Eiern freuen, serviert ans Fenster der «Suite» mit dem Prachtblick auf Eiger, Mönch und Jungfrau. Der 25

Deutsch