WEGWEISER NORTH6 Feinste Granitkletterei: Die Bedingungen in der Cassin-Führe am Piz Badile sind top. «Unser Risikomanagement haben wir in den 18 Tagen an die Grenzen getrieben.» Glücklich geben sich die beiden Kletterer am Ausstieg der Felstour Chant du Cygne am Eiger die Hand – den Gipfel im Blick. Teams, auf seinen Expeditionen in Patagonien, im Himalaya oder in Grönland unterwegs. Das Projekt North6 war anders. Bis zu zwölf Personen waren permanent mit dem Projekt befasst, darunter Kameraleute und Social-Media-Beauftragte. Die Stimmung in dem grossen Unterstützerteam sei aber sehr gut gewesen. Anfangs war der Druck natürlich hoch: Die Projektvorbereitung sei sehr intensiv gewesen und daher waren sehr hohe Erwartungen an das Gelingen des Projektes geknüpft. Der 37-jährige Simon Gietl wünschte sich aufgrund seiner Erfahrungen mit seinem North3-Projekt 2018 mehr Support. Damals stieg er in 48 Stunden durch die Nordwände auf die Grosse Zinne, den Ortler und den Grossglockner. Auch vor drei Jahren legte er die Strecken zwischen den Bergen mit dem Rennrad zurück – immerhin über 360 Kilometer. FOTO: ROMANO SALIS, CHRISTOPH MUSTER FOTO: ROGER SCHÄLI So kam es, dass sich zum North6-Team sogar ein Masseur gesellte. «Das war dann aber sehr gut, weil durch die Kombination von so viel Radfahren und Klettern die Muskeln etwas Behandlung brauchten», sagt Roger Schäli. Feuerlöschen, so nennt er das. Das Budget war verhältnismässig niedrig: 50‘000 Euro. Da sprang für die Fotografen gerade mal 1000 Euro pro Berg raus. Zudem waren zwei Helikopterflüge für Filmaufnahmen am Piz Badile und in Chamonix budgetiert. Obwohl sich die Fotografen zum Beispiel am Matterhorn auch mal weiter weg platzierten, um die grosse Totale einzufangen, sind die besten Bilder «quasi vis-à-vis mit guten Linsen entstanden», so Schäli. Diese Bilder, die das Duo teils mit eigener Handykamera oder GoPro machte, dokumentieren auch den inneren Kampf während ihres Projektes. SECHS REKORDWÄNDE So viel Aufmerksamkeit hatten die Bergsteiger der Nordwände in den 1930er-Jahren wohl nicht – ebenso wenig wie die entsprechende Ausrüstung. Daher verwundert es nicht, dass Anderl Heckmair, einer der Erstdurchsteiger der Eigernordwand im Jahr 1938, wie folgt zitiert wird: «Wer mit Sicherheit eine solche Wand durchklettern kann, muss sich wohl erhaben fühlen über alle menschlichen Kleinigkeiten.» Damit dürfte die Kombination aller sechs Wände eine saubere Leistung sein. Der Franzose Gaston Rébuffat war der erste Bergsteiger, dem zwischen den Jahren 1945 bis 1952 die Besteigung aller sechs grossen Nordwände glückte. 1993 gelang der Schottin Alison Hargreaves als erste Frau, die sechs Nordwände solo innerhalb eines Jahres zu durchsteigen. Und dann kommt schon Roger Schäli ins Spiel: 2008 durchstieg er die sechs Nordwände im Winter innerhalb von 45 Tagen und stellte damit einen Rekord auf. 2021 folgte nun sein zweiter – unter Zeitdruck und somit unter verschärften Bedingungen. Am Matterhorn und dem Petit Dru herrschten winterliche Verhältnisse. Nur der Piz Badile und die Grosse Zinne hatten «super» Bedingungen: So entschieden sie sich an der Zinne für den Klassiker Comici und am Piz Badile für die 800 Meter lange Cassin. Am Eiger hatten sie weniger Glück: Es war zu warm, und dadurch herrschte viel Stein- und Eisschlag, unten war die Wand nass. Die beiden entschieden sich, statt der Heckmair-Route über die Chant du Cygne (7a) an der rechten Seite der Eigernordwand aufzusteigen. Freilich keine klassische Nordwandroute, aber sie brauchten auch hier mit acht Stunden recht lange – und sogar um einiges länger als bei guten Verhältnissen über die Heckmair-Route. «Die Leute sagen immer: Ach, das ist nicht gleichwertig. Auf dem Topo sieht es dann doch einfacher aus, als es in Realität ist», sagt Schäli. Bei den Grandes Jorasses seien die Bedingungen «mittelgut» gewesen. Über den 20 Meter hohen Bergschrund aus Eis sind sie nicht gekommen, weswegen sie sich statt des Walkerpfeilers für die Route Direktes Leichentuch entschieden: 1100 vertikale Meter bei instabilem Wetter. HART AN DER GRENZE Auf die Frage, ob sie mit ihrem Projekt die Besteigung der Nordwände neu interpretieren wollten, stellt Roger Schäli ganz klar fest: «By fair means ist vor 100 Jahren ausgestorben.» Alles, was sie mit ihrem Projekt erreichen wollten, war, die Verbindung der Touren und die Besteigungen aus eigener Muskelkraft zu schaffen. Und das ist auch geglückt. Wenn man heutzutage eine Begehung by fair means, also bergsteigerisch puristisch, für sich beansprucht, «macht man sich angreifbar», findet Schäli. Ihnen wurde zum Beispiel angekreidet, dass sie am Eiger den Gleitschirm nicht selbst hochgetragen hätten. 400 Höhenmeter auf den Pilz – dafür brauche Schäli gerade einmal 30 Minuten. «Das war reine Spitzfindigkeit», sagt er im Nachhinein. Für ihn schmälert das nicht die Gesamtleistung, auch nicht, dass sie ihre Räder nicht selbst von einer Seite des Berges auf die andere getragen haben. Und wie beurteilt er den Fakt, dass sie nicht überall die klassischen Nordwand-Routen klettern konnten? «Wir haben sehr optimistisch geplant und angenommen, dass wir immer perfekte Bedingungen haben», erklärt Schäli. Während des Projektes sind sie dann mit der Realität konfrontiert worden. «Unser Risikomanagement haben wir in den 18 Tagen an die Grenzen getrieben.» Sie hätten aber keine Situationen erlebt, in denen sie richtig Glück gebraucht hätten – «also ich kann jetzt keine Räubergeschichten erzählen», sagt Schäli und lacht. Sie seien viel simultan geklettert, das heisst, dass einer der beiden immer vorausgeklettert ist und der andere mit Eiszeit am Matterhorn: Das Duo muss in verschneiten und teils eisigen Bedingungen klettern. 28 INSPIRATION 01 / 2022 29
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