Baechli.Bergsport
Aufrufe
vor 6 Jahren

Inspiration 3/2017 de

  • Text
  • Gewicht
  • Bergsport
  • Prana
  • Klettern
  • Inspiration
  • Gipfel
  • Meter
  • Hannes
  • Senf
  • Schweizer

WEGWEISER EINE

WEGWEISER EINE ABENTEUERLICHE ROUTE Der Einstieg in dieses Abenteuer ist nicht ganz leicht zu finden. Der schneebedeckte Gletscher schmiegt sich auf der Nordseite an den Grat und zieht sich an verschiedenen Stellen rinnenförmig in Richtung Schneide, als wolle er Bergsteiger zum Eintritt in eine schier unendliche Kletterreise locken. Ein Topo oder detaillierte Beschreibungen zum Ostgrat der Punta Kennedy haben Caro und Hannes im Vorfeld ergebnislos gesucht. Zwei Schlüsselseillängen im vierten Schwierigkeitsgrad – darüber sind sich die einzeilige Anmerkung im Alpinführer und die wenigen Erlebnisberichte im Internet zumindest einig. Der restliche Grat ist Kletterei bis zum oberen dritten Schwierigkeitsgrad und damit wohl nicht näher beschreibenswert. Viele zeitraubende Meter mit unklarer Wegführung und mittelmässigem Fels später taucht unverkennbar die Schlüsselstelle auf. Der Grat verengt sich und steilt auf. Die erste Seillänge ist plattig, die Möglichkeiten, mit mobilen Sicherungsmitteln nachzubessern, kaum vorhanden. Immerhin ragen weiter oben hier und da Schlaghaken aus engen Rissen, die ersten eindeutigen Begehungsspuren der gesamten Tour, ganze vier Stück auf insgesamt 40 Metern. Die schweren Bergstiefel suchen Halt auf flachen Reibungstritten, Hannes wird mal wieder klar, wie unangenehm sich ein alpiner Plattenvierer im kletterschuh-verwöhnten Zeitalter anfühlen kann. Um die Nerven zu beruhigen, legt er eine Bandschlinge Gipfelglück an der Punta Kennedy, den Piz Bernina zieren Wolkenfetzen. Das Wasser für den Morgenkaffee will im Bivacco Oggioni erst mal aus Schnee geschmolzen werden. Dafür ist der Blick auf den Sonnenaufgang inklusive. über ein angedeutetes Felsköpfchen, dessen Nase sich auf der Platte nur minimal nach oben wölbt. «Versuchen kann man es ja mal», ruft er zu Caro hinab und schiebt sich beherzt auf den nächsten Tritt. Die zweite Schlüssellänge ist deutlich steiler. Im griffigen Fels weicht die Anspannung einem breiten Grinsen – auch, wenn weder Absicherung noch Wegfindung Sportkletter- Gefühle aufkommen lassen. Immerhin nimmt der Fels hier zwischen den Schlaghaken willig Friends und Keile auf. Während die Touren an den beliebtesten Kletterbergen des Bergells meist sanft saniert wurden, finden sich auf dieser Führe bis zum Gipfel keine Bohrhaken, ein dicker Pluspunkt für den Abenteuer- und Einsamkeitsfaktor. EINSAM AM BERG Die zweite Grathälfte zur Punta Kennedy ist reiner Genuss. In festem und griffigem Granit zackt sich die Schneide schier endlos in Richtung Westen, traumhafte Kletterei bis in den oberen dritten Schwierigkeitsgrad. Wie im Rausch spulen Caro und Hannes Meter um Meter zum Gipfel, die drohende Dämmerung drückt zusätzlich aufs Tempo. Felsköpfchen für Bandschlingen, Rissverschneidungen für Klemmgeräte: Die Strukturen scheinen wie gemacht für Kletterer. Kaum zu glauben, dass auch der Bergeller Granit 20

BERGELL vergänglich ist: Im Winter 2011 stürzten am berühmten Kletterberg Cengalo zwei Millionen Kubikmeter Fels ins Tal, das entspricht dem Volumen von 2500 Einfamilienhäusern. Die Punta Kennedy bleibt heute standhaft. Vom Gipfel ist die rot schimmernde Blechschachtel des Bivacco Oggioni nicht mehr zu verfehlen, romantisch schmiegt sie sich 150 Höhenmeter tiefer in den Sattel zwischen Monte Disgrazia und Pizzo Ventina. Die letzten Meter über den firnigen Gletscher werden zum Schaulaufen der Gefühle. Die Abendsonne taucht die umliegenden Berge in zartes Rosa, beim Blick nach rechts fällt direkt der Piz Bernina ins Auge, an dessen berühmten Biancograt sich Caro und Hannes auch schon in die Perlenschnur der Bergsteigermassen eingereiht haben. Heute haben sie seit dem Frühstück im Rifugio Porro nicht einen Menschen gesehen. Das ändert sich auch nicht, als sie die Tür der Blechschachtel öffnen, erleichtert und betört von den Eindrücken des Tages bereiten sie ihr Lager für die Nacht. EINE LEGENDE AUS STEIN Die Sonne hat sich gerade über die Gipfel der Engadiner Bergriesen geschält, als Caro und Hannes am oberen Ende der Firnflanke ihre Steigeisen verstauen und in die Granitreise zum Disgrazia-Gipfel starten. Der Tag beginnt, wie der letzte aufgehört hat: genussvolle Kletterei Landesgrenze CHIAVENNA SIEBEN PÄSSE Auch Wanderer kommen in der Region auf ihre Kosten. Ein echtes Highlight ist beispielsweise der Sentiero Roma. Sieben Pässe werden in fünf Tagen überquert. Der Weitwanderweg führt auf der Südseite entlang sämtlicher Bergeller Granitriesen. IT SOGLIO Pizzo Badile CH SAN MARTINO CHIAREGGIO Monte Sissone Monte Disgrazia Wanderweg Abmarsch am Bivacco Oggioni, den Gipfel des Monte Disgrazia und die «Corda Molla» bereits im Blick. mit atemberaubenden Tiefblicken. Schier endlos zieht sich der Grat nach Südwesten auf den höchsten Punkt des Bergells zu. Was vom Bivacco wie ein Katzensprung wirkte, offenbart sich als ständiges Auf und Ab durch rot leuchtenden Granit. Die Schlüsselstelle des Anstiegs ist zugleich Namensgeber der Tour: Via «Corda Molla». Wie ein «hängendes Seil» zieht eine gut 45 Grad steile Firnschneide zu den Gipfelfelsen. Bei gutem Trittfirn ist die Passage nicht allzu schwer. Heikel wird es bei Blankeis, denn die Flanke fällt steil ab, um dann in einem Abbruch über dem Disgrazia-Gletscher zu enden. Zusätzliche Eisschrauben sollten unbedingt im Gepäck sein. In griffigem Firn stapfen Caro und Hannes die ersten, flacheren Meter hinauf. Auf halber Strecke hat der schwindende Schnee eine Felsnische freigegeben, in der ein Stand aus soliden Schlaghaken für Entspannung sorgt. Die zweite Hälfte steilt deutlich auf und auch der Untergrund wird anspruchsvoller. Hannes versenkt einige Eisschrauben. Auf den letzten Metern zeigt die Schlüsselstelle Zähne: Die Frontalzacken der Steigeisen bohren sich in eine dünne Blankeis-Auflage und krachen auf Granit. Auch das zusätzliche Eisgerät, das Hannes vorsorglich an den vollgepackten Rucksack gesteckt hat, leistet nervenschonende Dienste. Steil leiten die Felsen der schattigen Nordwand von hier zum Gipfel. Trotz unklarer Wegfindung sind die letzten Meter schnell vollbracht, leider kann die Felsqualität nicht mit den hervorragenden Gratpassagen der vergangenen Stunden mithalten. Dennoch: Caro fällt Hannes überglücklich in die Arme. «Was für eine Mega-Tour!» INSPIRATION 03 / 2017 21

Erfolgreich kopiert!

Deutsch