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Inspiration 1/2018 dt

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WEGWEISER CERRO KISHTWAR

WEGWEISER CERRO KISHTWAR POSITIV-KREATIVE NAMENSGEBUNG «Snowledge», «Happyledge», «Sunnyledge» und «Kempinski» heissen die vier Camps, welche die Alpinisten am Cerro Kishtwar einrichten. Insgesamt verbringen sie zehn Tage in der Wand. auf unserem Weg zum Kishtwar, treffen wir in den höhergelegenen Tälern nur noch auf Schafhirten, die wiederum islamisch geprägt sind. Zumindest hier im Tal scheint das Zusammenleben der unterschiedlichen Religionen zu funktionieren. Als wir schliesslich das etwa 4000 Meter hoch auf einer Randmoräne gelegene Basislager erreichen, liegt ein sechstägiger Fussmarsch hinter uns. Doch die Wetterverhältnisse sind so gut, dass wir gleich am nächsten Tag weiter in Richtung Cerro Kishtwar aufbrechen, um ein vorgeschobenes Basislager auf 5050 Meter einzurichten. Auf dem Weg zur Wand bleibe ich immer wieder stehen. Obwohl ich schon viele beeindruckende Berge gesehen habe, staune ich hier ständig aufs Neue über die Wildheit der Landschaft. Nach mehreren Materialtransporten – 150 Kilogramm Ausrüstung werden ins vorgeschobene Basislager gebracht – geht es los. Endlich! Die Wand übt eine solche Faszination aus, dass wir es kaum erwarten können: im unteren Teil eine rund vierhundert Meter hohe, steile Eisflanke mit kombinierten Passagen, darüber eine sechs- bis siebenhundert Meter hohe Granitwand. Linkerhand sind die Spuren der Erstbegeher im Eis erkennbar, rechterhand die von Siegrist, Bordet und Lama 2011. Die geplante Linie liegt in der Mitte. Schwierig sieht sie aus, aber die Risssysteme sind gut sichtbar und damit kalkulierbar. Mittlerweile ist auch Julian eingetroffen, der wegen des Abschlusses seiner Bergführerausbildung erst später starten konnte. «Du brauchst nur noch deinen Schlafsack auszurollen und deinen Klettergurt anzuziehen», begrüssen wir ihn grinsend. Nach einer kurzen Akklimatisierungsphase fangen wir an: Der untere Teil der Wand wird mit Fixseilen versichert, dann zerren wir die Haulbags bis zum beginnenden Fels: Portaledge, Schlafsäcke, Isomatten, Kocher, das gesamte Kletterequipment und Proviant, genau berechnet. In fünf Tagen wollen wir den Gipfel erreichen, wenn es gut läuft vielleicht auch in vier. Das heisst Hauptmahlzeiten und Riegel für fünf Tage, zwei Dosen Mineraldrink, Müesli, Kaffeepulver, Gummibärchen. Und ein Stück feinsten Specks aus meiner Heimat-Metzgerei in Berchtesgaden. Stephan Siegrist in der Nordwestwand. Zusammen mit Thomas Huber und Julian Zanker gelingt der Durchstieg. SCHWERER ANSTIEG Noch einmal kehren wir zurück ins Basislager. Zeit für jeden, die persönliche Ausrüstung zu optimieren, zu schlafen, zu essen und sich auf den entscheidenden Anstieg vorzubereiten. Am letzten Septembertag dreht der Wind in der Höhe auf Nord, die Restfeuchtigkeit, die am Nachmittag immer wieder für etwas Niederschlag gesorgt hatte, ist verschwunden und hinterlässt einen stahlblauen, wolkenlosen Himmel. Es geht los. Oberhalb des Einstiegs zieht sich ein haarfeiner Riss rund 150 Meter bis auf ein Band empor. Doch wer fängt an? Wortlos rüstet sich Julian mit Cams, Stoppern, Haken und Bird Beaks aus. Kletterschuhe und Magnesia bleiben erst mal im Haulbag – es ist schattig und kalt, vielleicht minus zehn Grad. Die Sonne wird sich erst am Nachmittag blicken lassen. Stephan baut unser Lager auf, ein Portaledge für drei Personen. Ich lege das Seil in das Sicherungsgerät. Julian schlägt zwei Meter über dem Stand den ersten Bird Beak. Der Hybridhaken ist mittlerweile das wichtigste Tool der modernen Techno-Kletterei; mit ihm lassen sich fast kompakte Passagen bewältigen, ohne dafür ein Loch in den Felsen bohren zu müssen. Nach drei Stunden richtet Julian einen Standplatz ein, Stephan übernimmt. Ich mache es mir im Portaledge bequem. Von oben dringen Flüche herab: «A huere Schiiisdreck!» Alle Risse sind geschlossen. Ich schalte auf Durchzug – ändern kann ich sowieso nichts. Am Abend haben wir nur 50 Meter geschafft. Viel weniger als erhofft. Zu wenig, um in fünf Tagen den Gipfel zu erreichen. Der nächste Tag. Nach einem schnellen Frühstück – ein paar Löffeln Müesli und einer Tasse Kaffee – steige ich mit Julian zum gestrigen Umkehrpunkt. Er sichert, ich arbeite mich stetig nach oben. Ohne die Bird Beaks würde ich manchmal nicht weiterwissen. Kurz nach Mittag erreiche ich das ersehnte Band, wo wir unser nächstes Lager einrichten. Julian, der mich vier Stunden gesichert hat, ist durchgefroren und spürt seine Zehen nicht mehr, Stephan übernimmt. Ich quere das Schneeband «Bereits bei meinem ersten Besuch war ich überwältigt von der eindrucksvollen Gebirgswelt, der Ästhetik der Berge und den vielen ungekletterten Linien. Obendrein trifft man hier kaum auf andere Bergsteiger oder Touristen.» STEPHAN SIEGRIST nach rechts, endlich kommen die perfekten Risse! Am Abend bin ich völlig euphorisiert und zuversichtlich. Doch am dritten Tag folgt die Ernüchterung: Nur 35 Meter in sechs Stunden! Nicht mal ein Drittel der Wand ist geschafft. Stephan kämpft mit einer geschwollenen Hand, Julian mit gefühllosen Zehen. Ich mit der Angst, auch hier zu scheitern. Die Essensportionen werden reduziert und jeder versucht, irgendwie Schlaf zu finden. In Gedanken gehen wir die möglichen Szenarien durch. Weitergehen? Die Essensrationen auf ein Minimum reduzieren und noch einmal alle Kräfte bündeln? Oder umkehren? Kletterseile fixieren, sodass der Status quo vom Basislager aus in einem Tag erreicht werden kann? Etwas drückt in meiner Jackentasche. Es ist der kleine Stein, den mir meine Tochter vor der Abreise gab. «Mut» steht darauf. Wenn wir jetzt absteigen, denke ich, laufen wir nicht davon, sondern beweisen Mut. Können uns erholen, um dann noch einmal mit voller Kraft und vollem Vertrauen durchzustarten. Am darauffolgenden Tag kehren wir ins Basislager zurück. 26 INSPIRATION 01 / 2018 27

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