GIPFELTREFFEN MARKUS MÜLLER Welche Werte sind mir wichtig und wo stehe ich? Mit Methoden wie der Werteleiter unterstützt Markus Müller andere Personen, ihren Wünschen und Zielen näherzukommen. hat mich schnell rausholen können, aber ich hatte lange Flashbacks von diesem einschneidenden Erleb nis. Schon vor dem Reinfahren in den Hang hatte mein Freund ein schlechtes Bauchgefühl, obwohl die Lawinenwarnstufe 2 eher unkritisch erschien. Ich war stark vom Kopf geprägt und die Kognition hat das Bauchgefühl übersteuert. Dieses Erlebnis war die Initialzündung, mich mehr mit dem Menschen und seiner Psyche zu befassen. Die Psychologie des Bergsteigens, die Entscheidungsfindung, was der Berg mit uns macht und welche Motive wir haben – das fand ich interessant. Das eigene Motiv ist oft ausschlaggebender als das Wissen über die objektiven Faktoren, wie beispielsweise den Schneedeckenaufbau. Welche Motive führen uns überhaupt in die Berge? Es ist skurril. Viele Bergsteiger sagen «Bergsteigen ist Freiheit». Genau genommen ist es aber das Gegenteil: Du gehst am Seil, trittst in die Spuren deines Vorgängers und der Weg ist klar vorgegeben. Ein Beispiel ist der Mittellegigrat am Eiger: Du hast genau eine Richtung und die lautet «nach oben!». Nach links oder rechts will niemand – kannst du auch nicht. Das heisst aber doch, dass die Freiheit vollkommen eingeschränkt ist. Trotzdem sagen alle: Das Bergsteigen bedeutet absolute Freiheit. Und warum? In der Philosophie der Stoiker wurde Folgendes gelehrt: Freiheit heisst, genau das zu wollen, was möglich ist. Wenn der Hund genau die Leinenlänge super findet, an der er laufen kann, dann wird er glücklich. Der Hund hat völlige Freiheit, weil er nirgends anders hinwill. Beim Bergsteigen ist es dasselbe: Ich will auf dem Mittellegigrat nur hoch, links und rechts zu gehen kommt mir nicht in den Sinn. Deshalb fühlt es sich so frei an. Obwohl man nur eine Wahl hat. Weil man nur eine Wahl hat – und die se der Herzenswunsch ist. Gute Bergsteiger schaffen es, das zu wollen, was gerade noch im Rahmen ihres Möglichen ist. Zum Beispiel beim Sportklettern: Ein Kletterer entwickelt ein Gespür dafür, welche Schwierigkeit er klettern könnte. Dann wird die Route projektiert – und irgendwann gelingt sie ihm. Das Resultat ist ein Glücksgefühl, weil er gespürt hat, was in seinen Fähigkeiten liegen könnte. Ein anderes Beispiel ist eine Gruppe von älteren Skitourengehern, die ich gerade geführt habe. Der Altersdurchschnitt liegt bei 85, der älteste ist 94. Die haben dieses Grundprinzip des Bergsteigens erreicht: Sie wollen genau das, was sie können, und sind maximal glücklich damit. Das fühlt sich nach absoluter Freiheit an, obwohl das Bergsteigen eigentlich restriktiv ist. Sind Bergsteiger deswegen glücklichere Menschen? Naja, ich glaube eher, dass viele gute Bergsteiger über Jahre hinweg zwangsläufig dieses Gespür entwickeln. Sie wollen genau das, was möglich ist. Das könnte Freiheit bedeuten und glücklich machen. Aber am Berg ist es viel einfacher als im Alltag, so seine Fähigkeiten zu entfalten – ohne viel Druck oder Frust. Warum ist es im Alltag schwieriger? In den Bergen gibt es viel weniger Einflussfaktoren. Auch werden wir von weniger Menschen beeinflusst. Im Alltagsleben sind wir eingespannt in Erwartungen und Verpflichtungen. Gleichzeitig stehen wir vor vielen Optionen. Dadurch wissen wir nicht mehr, welches der richtige Entscheid für uns selbst ist. Ich habe oft das Gefühl, dass wenn du nicht beschleunigst oder dich in das Wertesystem der heutigen Gesellschaft einfügst, dass du dann verdächtig bist. Man denkt, die Person würde sich nicht gut entwickeln. Am Berg hingegen kommst du mit Beschleunigung nicht weit. Es geht darum, zwölf Stunden FOTO: ROB LEWIS FOTO: RAPHAELA JOST gut einzuteilen, um den Tag durchzuhalten. Es geht um die Konstanz. Reinhard Karl hat sehr schön beschrieben, wie er diese «Zeit zum Atmen» braucht. Er ist so eingespannt und leidet sehr unter seinem Antrieb – bis er irgendwann die Zeit zum Atmen findet. Und das hat Reinhard Karl am Berg gelernt? Genau, er war auf dem Weg, sich diese Qualität anzueignen. Leider ist er dann viel zu früh verunglückt. Es gibt einen etwas abgegriffenen Spruch, aber er bringt es auf den Punkt: «Wir wollen weit kommen, also gehen wir langsam.» Das gilt nicht nur für die Berge, sondern auch für den Alltag. Es sollte ein stimmiger Umgang mit den eigenen und natürlichen Ressourcen, aber auch mit den Restriktionen geben. Dann bringt uns die Entschleunigung im Alltag weiter? Ja. Ausserdem ist es als Bergsteiger vielleicht einfacher, den Blick für die wesentlichen Dinge nicht zu verlieren. Bergsteigen ist ein Demutssport, in dem wir lernen, dankbar und zufrieden mit dem zu sein, was uns die Natur gibt, anstatt immer mehr zu wollen. In der deutschen Sprache sagt man: «Es ist mir gelungen». Das bedeutet, ich habe viel dazu beigetragen, aber es gibt einen Anteil, den ich nicht beeinflussen konnte. Das entlastet, weil nicht alles von mir abhängig ist, sondern auch von den Umständen, von Glück oder Zeit. Am Berg ist es genauso: Du erreichst den Gipfel, weil es die Natur ermöglicht. Aber beim Föhnsturm mit 120 km/h Wind kannst du nicht mal die Hüttentür öffnen. Wir lernen am Berg zwangsläufig, die Umstände zu akzeptieren. Das führt zu einer Gelassenheit und Zufriedenheit – und das in einer Welt, in der man das Gefühl hat, alles sei möglich und man sich deshalb selbst ständig optimieren sollte. Wie können wir diese Gelassenheit in den Alltag übertragen? Das ist eine Dauerfrage in meinen Coachings: Wie schaffe ich es, mit dem zufrieden zu sein, was ich habe? Nicht nur materiell, sondern vor allem mit seinen eigenen Persönlichkeitsanteilen. In den Bergen ist das einfacher, weil man weniger von aussen beeinflusst wird. Wenn ich aber für mich klären kann, was meine eigenen Werte sind und welche Ziele ich verfolge, dann wäre das der erste Schritt. Ich muss wie beim Bergsteigen ein gutes Ziel formulieren. Sein Potenzial entfalten und spüren, was in den Fähigkeiten liegt: Markus Müller beim Sportklettern in Leonidio, Griechenland. 48 INSPIRATION 03 / 2019 49
Laden...
Laden...
Laden...