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Inspiration 03-2019

EXPERT FORTBEWEGUNG AUF

EXPERT FORTBEWEGUNG AUF DEM GLETSCHER HEISS AUF EIS Klimaforscher schlagen Alarm: Wenn sich nichts Gravierendes ändert, könnten die Alpengletscher in den nächsten 80 Jahren fast vollständig verschwinden. Was bedeutet dieser rasante Wandel eigentlich für die Technik und die Taktik auf Hochtouren? ILLUSTRATION: SOPHIE KETTERER TEXT THOMAS EBERT Auch wenn der vergangene schneereiche Winter den Alpengletschern richtig guttut: Die letzten Jahre ging es ihnen, im wahrsten Sinne des Wortes, ganz schön dreckig. Erst vor wenigen Wochen berichteten die Schweizer Forscher Harry Zekollari, Matthias Huss und Daniel Farinotti in einer vielbeachteten Studie, dass im Jahr 2100 nur noch rund ein Drittel des alpinen Gletschervolumens vorhanden sein könnte – wenn man von einem glimpflichen Szenario ausgeht. Möglich sei aber auch, dass 2100 so gut wie alle Alpengletscher abgeschmolzen sein könnten. Tatsächlich lässt sich der Klimawandel im hochalpinen Gelände mit blossem Auge feststellen. Teils sind schon Hunderte Höhenmeter Aufstieg über Leitern nötig, um Hütten zu erreichen, die einst auf Gletscherniveau errichtet wurden. Im Jahr 1980 veröffentlichte Erich Vanis seinen populären Auswahlführer «Im steilen Eis. 80 Eiswände in den Alpen». Heute sind Dutzende der darin enthaltenen Touren, besonders in den etwas niedrigeren Ostalpen, nicht mehr existent. Und wenn heutige Lehrbücher für Hochtouren das «Gehen in Fels und Eis» erläutern, sollte angesichts der realen Verhältnisse eigentlich noch ein Kapitel für das «Gehen im Schotter» hinzugefügt werden: Bröselige Randmoränen, unterhöhlte Gletscherränder, die das Betreten und Verlassen des Eises erschweren, und ausgeaperte Bruchhänge haben in Zeiten des Klimawandels Hochkonjunktur. Wie aber können sich Bergsteigerinnen und Bergsteiger auf solche Veränderungen technisch und taktisch einstellen? «Die Veränderungen sind da», sagt auch Matthias Büeler, Bergführer bei Alpine Experience, einem Kletterverein für Kinder und Jugendliche. «Spaltenzonen verschieben sich und stimmen nicht mehr überall mit dem Abbild in der Karte überein. Das gab es früher auch, aber heute vollziehen sich die Veränderungen schneller. Man kann sich weniger auf die Karte verlassen, und es ist noch wichtiger geworden, das Gelände direkt vor Ort zu beurteilen.» Büeler empfiehlt zudem eine gesunde Portion Skepsis, was die Durchführbarkeit von Touren angeht. Der Klimawandel mache Hochtouren nicht pauschal unmöglich, aber es sei noch wichtiger, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. «Ich habe schon Tourenberichte gelesen, die Spaltenzonen für unpassierbar erklärt haben. Ein paar Wochen später war dieselbe Tour dann ohne weiteres machbar.» Auch der SAC weist in seinen «10 Empfehlungen für Hochtouristen» auf den Klimawandel hin – übrigens noch vor dem Rat, sich auf Gletschern anzuseilen. «Verhältnisse checken! Gletscherrückgang, Ausaperung und Anstieg der Null-Grad-Grenze aufgrund des Klimawandels erhöhen die Steinschlag- und Spaltensturzgefahr.» Wenn die gedruckten Karten und Führer mit dem Tempo des Klimawandels nicht mehr mithalten können, wo findet man dann verlässliche Informationen? «Ich kontaktiere für die Tourenplanung diverse Internetportale, bin aber sehr vorsichtig, da die Qualität der Rückmeldung sehr gemischt sein kann», gibt Büeler zu Bedenken. «Ganz wichtig ist nach wie vor die aktuelle Auskunft der Hüttenwarte – eigentlich noch wichtiger als früher. Wenn man seine Buchung vornimmt, sollte man unbedingt gleich nach den aktuellen Bedingungen fragen. In welchem Zustand sind die Gletscher? Herrscht Steinschlag? Braucht es schon für den Hüttenzustieg einen Helm?» DAS ENDE DER GEWISSHEITEN? Was im Kleinen nötig ist, gilt natürlich auch für das grosse Ganze: Eine typische «Hochsaison» für Hochtouren gibt es immer weniger. Noch vor wenigen Jahrzehnten lag man mit einer Empfehlung wie «Juni bis Juli» selten verkehrt. Heute ist eine pauschalisierte Aussage kaum noch möglich: «Es hat sich definitiv verschoben. Jedes Jahr sieht es etwas anders aus, die Bedingungen hängen noch stärker mit den aktuellen Niederschlägen zusammen», erklärt Büeler. «Vor einigen Jahren bin ich richtig erschrocken: Im November war ich auf dem Mönch – bei idealen Bedingungen. Ähnlich war es am Matterhorn.» INSPIRATION 03 / 2019 39

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